Zeitdruck beim Segeln ist suboptimal. Denn, der geduldige und entspannte Segler hat immer die richtigen Winde! Nur, Geduld und Zeit haben wir in diesem Fall nicht. In Heraklion auf Kreta ist Crew-Wechsel. Der Flieger wartet nicht. Samstag um 11.20 Uhr ist Abflug. Logbucheintrag für Mittwoch: Nord/Nordost 6-7, in Böen 8 Beaufort. Donnerstag 8 Beaufort, steigend. Komisch, zum Nachmittag und Abend schläft er fast ein. Windet moderat. Eine Fähre von Santorin geht nicht mehr nach Kreta. Aussitzen ist keine Option. Was machen? Die Götter werden es schon richten! Meine Crew hat keine Meinung. Haben ihr Testament wohl bereits geschrieben.

Wir liegen in der seinerzeit unfertigen Marina Vlychada, an der Südküste. Von hier aus sind es etwa 60 Seemeilen mit 180 Grad nach Kreta. Kein Hafenmeister, keine Port-Police. Auslaufverbot sämtlicher Fähren in der Ägäis. Sturmwarnung! 45 bis 50 Knoten, in der Spitze 55 Knoten. Nördliche Winde. Was heißt das für den Skipper? Raumschot-Kurs unter einer handtuchgroßen Genua! An und unter Deck wird alles sturmsicher vertäut. Lasse ich mich auf einen 12-stündigen Höllenritt ein? Ich verate mal etwas. Heute in meinem Alter würde ich Flieger Flugzeug sein lassen. Scheiß egal, ob die Mitsegler nach Hause müssen oder nicht. Es gibt auch noch ein Morgen, ein Übermorgen, eine andere Woche und/oder einen anderen Monat. Eine andere Zeitrechnung! Aber, mit 39 Jahren, noch voll mit Testosteron, den Göttern ziemlich nah gab es nur eine Entscheidung. Augen zu, raus aus dem Hafen, die sturmgepeitschte Ägäis ruft! Drei Uhr morgens klingelt der Wecker, für vier Uhr morgen habe ich Auslaufen befohlen! Rettungswesten, Lifebelts, Sorgleinen an Deck, alles wird nochmals geprüft. Deckscheinwerfer, Handscheinwerfer, Ausgruck vorn, langsam schleichen wir unter Motor aus dem Hafen. Der Windmesser zeigt um die 30 Knoten Wind. Es ist noch stockdunkel. Meine Mannschaft hat bereits jetzt mit dem Leben abgeschlossen. Wenn ich in die Gesichter schaue und mir Gestik und Mimik beim Verfassen dieser Zeilen nochmals ins Gedächtnis rufe, schauertes mir. Gänsehaut an den Armen. Keine einzige Person hat für sich die Entscheidung getroffen von Bord zu gehen. Ich hatte es ihnen freigestellt. Volles Vertrauen in den Skipper und in Nicole als Co-Skipperin.

Die ersten Meilen spulen wir im Dunkeln ab. Es wird langsam heller, die Sonne, tief im Osten geht auf. Eine eigenartige Stimmung empfinde ich an Bord. Blauer Himmel, wolkenlos wie immer und es wird auch ein super sonniger Tag. Der Wind nimmt zu, die Wellen, die Wellenberge und -täler nehme ich nicht wahr. An diesem Tag schaue ich mich nach etwa 30 Seemeilen das einzige Mal um, es gibt kein zurück, nur nach vorn – Heraklion liegt an! Ich sehe den Himmel nicht mehr! Wellenhöhe, kein Ahnung. Nicole sagte mir auf Kreta, es waren 8 bis 12 Meter! Seit vier Uhr morgens stehe ich am Steuer. Außer Nicole hängt die gesamte Mannschaft in den Seilen, die Psyche macht nicht mehr mit. Es ist still an Bord. Eine unheimliche Stille – eine Totenstille. Seit Santorin begleitet uns eine Möwe, nun bereits seit acht Stunden. Seit etwa sechs Stunden begleitet uns ein Delfin, surft immer rechts von uns an Steuerbord durch die Wellen und hält Blickkontakt – unglaublich aber wahr! Das ist kein Seemansgarn! Dieser Delfin verlässt uns kurz vor der Hafeneinfahrt von Heraklion! Die Möwe ebenfalls! Es waren wohl unsere Schutzengel in Tiergestalt?

Um die 50 Knoten Wind, in der Spitze 55 Knoten! Wellen, die habe ich bis heute nicht wieder gesehen und erlebt. Ich befinde mich in Trance, nehme um mich herum nichts mehr wahr. Schaue nur nach vorn und auf den Kompass. Bei dem Wetter steuere ich selbst. Bereits nach der Hälfte der Strecke sehe ich die Umrisse von Kreta. Wir leben noch, wir segeln. Die Wellenberge immer schön aussteuern und wieder Blick nach vorn. Die Insel Dia, sechs Seemeilen vor Heraklion querab. Wir haben es bald geschafft. Die Hafeneinfart von Heraklion mit der riesigen und langen Kaimauer gibt uns Schutz. Die Höllenfahrt neigt sich dem Ende entgegen.

Die Hafenbehörden trauen ihren Auge nicht. Glauben nicht, dass wir von Thira kommen. Meine Mannschaft hat ihr Testament wieder zerrissen. Sie sind nie wieder an Bord gekommen! Der Flieger hebt pünktlich ab. Die neue Crew kommt an Bord. Eine wahre Geschichte die beweist, dass die menschlichen Fähighkeiten und Kenntnisse…. Die Interpretationen der Weiterformulierungen sind Tür und Tor geöffnet.

Willkommen an Bord auf der SY Ocean Spirit!
Entspannte Grüße
HJR